Unter dem Motto „Superkräfte durch KI“ präsentieren wir KI-Ansätze, die wir alltäglich in unseren Projekten verwenden. Sie bekommen einen Überblick zu möglichen Ansätzen und deren Funktionsweise. Dabei können Sie entdecken, welche konkreten Einsatzszenarien und Vorteile für Sie möglich sind.
Im letzten Blogpost haben wir unser etabliertes Framework zur Anomalieerkennung erklärt: Wir modellieren den Normalzustand, berechnen die Abweichung der tatsächlichen von den Modelldaten und legen die als noch normal geltende Abweichung fest. In diesem Teil beschreiben wir zwei praxisnahe Beispiele für die Anwendung dieses Frameworks in der Produktion, konkret in der diskreten und kontinuierlichen Fertigung.
Der Kunde nutzt eine Werkzeugmaschine, um mehrere Löcher in Gussteile präzise und schnell einzubringen. Die Gussteile stammen aus unterschiedlichen Chargen, bei denen sich die Materialbeschaffenheit leicht unterscheiden kann. Durch diese Unregelmäßigkeiten im Material oder aus anderen Gründen wie Verschleiß brechen in der Bearbeitung immer wieder Bohrköpfe ab. Hier ist eine schnelle Reaktion gefragt — je früher der Bruch erkannt und die Produktion gestoppt wird, desto weniger Teile werden durch den gebrochenen Bohrer fehlerhaft bearbeitet. Denn solche Teile müssen dann mühevoll nachträglich identifiziert werden, um anschließend nachbearbeitet oder im schlimmsten Fall entsorgt zu werden. Dies verursacht Zeitaufwände sowie Materialverluste in der Produktion und damit: Weniger produzierte Teile zu höheren Kosten.
Eine mögliche Lösung mithilfe von automatischer Anomalieerkennung ist in diesem Fall eine Überwachung des Bearbeitungsprozesses durch eine Schwingungsmessung. Dabei werden die leichten Schwingungen der Werkstücke über den Produktionsprozess hinweg mittels hochauflösender Beschleunigungssensoren aufgezeichnet. Durch Signale aus der Steuerung der Produktionsmaschine können wir das Schwingungssignal in die einzelnen Bearbeitungsschritte zerlegen und diese über Werkstücke hinweg vergleichen.
Um unser Framework anzuwenden, müssen wir zunächst den Normalzustand definieren. Dafür machen wir in diesem Fall drei Annahmen:
Daraus ergibt sich, dass Werkstücke normalerweise korrekt und gleich verarbeitet werden und dadurch ähnliche Schwingungsbilder bei der Verarbeitung erzeugen. Bei einem Bruch verändert sich plötzlich das Schwingungsbild des aktuellen Werkstücks im Vergleich zu den vorausgegangenen Werkstücken. Für eine praktische Umsetzung verwenden wir die Schwingungsbilder der letzten zehn gefertigten Werkstücke und berechnen für jedes Schwingungsbild die sogenannte Hüllkurve. Diese legt sich wie das Plastik einer Vakuumverpackung als äußere Hülle um die Schwingungskurven.
Die resultierenden zehn Hüllkurven legen wir übereinander. Sie definieren den Bereich, in dem sich die Hüllkurve des Schwingungsbildes für das nächste Werkstück erwartungsgemäß aufhalten sollte. Normalzustand definieren: Check!
Wir erwarten also, dass sich die Hüllkurve des aktuellen Teils ähnlich verhält wie die zehn vorangegangenen. Daher berechnen wir die Abweichung der Hüllkurve vom Normalbereich (Abweichung der tatsächlichen Werte vom Erwartungswert berechnen: Check!). Wenn diese zu hoch ist, erfolgt eine Meldung an die Steuerung der Maschine, die die Produktion umgehend stoppt. Um festzulegen, ab wann der Normalbereich als verlassen gilt, werden Brüche aus der Vergangenheit betrachtet und regelmäßig in einer Probephase nachjustiert (Festlegen, ab wann eine Abweichung nicht mehr normal ist: Check!).
Die Hüllkurve des neuen Werkstücks liegt an vielen Zeitpunkten außerhalb des vorher festgelegten Normalbereichs, genauer gesagt, sie schwingt im Vergleich zur Erwartung zu wenig. Diese Anomalie könnte z.B. dadurch verursacht sein, dass ein Bohrkopf abgebrochen ist und nun keine Schwingungen beim Bohren mehr hervorruft.
Der Vorteil dieser Herangehensweise ist, dass ein sogenannter Concept Drift umgangen wird: Wenn sich durch Verschleiß, leicht andere Materialeigenschaften einer neuen Charge oder anderer irrelevanter Eigenschaftsänderungen das Schwingungsbild verändert, passt sich durch die Verwendung der letzten zehn Werkstücke auch der erwartete Normalbereich an. Außerdem kann durch diesen Ansatz direkt nach Einbau der Schwingungsmessung mit der Erkennung von auffälligen Zuständen begonnen werden, ohne einen umfangreichen Datensatz mit expliziten Beispielen von fehlerhaften Schwingungsbildern sammeln zu müssen. Mit der Zeit können die gesammelten Daten aber helfen, die Zuverlässigkeit der Alarme zu verbessern.
Der Kunde bringt mithilfe eines Kompressors den Gasdruck in einer Pipeline auf einen konstanten Wert. Abhängig von der gewünschten Durchflussmenge wird die Drehzahl des betrachteten Kompressors auf einen Wert zwischen 100–200 Umdrehungen pro Minute (U/min) gesetzt. Normalerweise liegt die Maschinentemperatur in einem Bereich von 30–50 °C. Andere Sensorwerte wie Schwingungsmessungen, Drücke etc. sind natürlich ebenfalls relevant, werden der Einfachheit halber in dieser Erklärung jedoch nicht betrachtet.
Ein naiver Grenzwertansatz zur Anomalieerkennung würde einen Zustand als auffällig erkennen, wenn die Temperatur niedriger als 30 °C oder höher als 50 °C ist, da sie dann außerhalb der Normalwerte liegt. Das Problem: Niedrige Umdrehungszahlen führen zu niedrigeren Temperaturen. Ist die Umdrehungszahl niedrig (bei etwa 100 U/min), aber die Temperatur bei 50 °C, ist die Temperatur zu hoch gegeben der äußeren Umstände. Das Grenzwert-basierte Benachrichtigungssystem schlägt aber nicht aus, da die Temperatur nicht höher als 50 °C liegt. Andere Zusammenhänge zwischen verschiedenen Größen können bei dem naiven Grenzwertansatz ebenfalls nicht so einfach beachtet werden.
Die Temperatur ist also abhängig von der festgelegten Drehzahl der Maschine. Nach unserem Framework modellieren wir die Temperatur, die durch die gegebene Umdrehungszahl erwartet wird. Dazu sammeln wir Daten, in denen sich der Kompressor „normal“ verhält. Da die meisten Zustände erwartungsgemäß „normal“ sind, lassen sich solche Daten recht einfach sammeln. Dann wird ein Modell entwickelt, welches gegeben bestimmter Größen (hier Umdrehungszahl) die anderen Größen (hier Temperatur) vorhersagt. Hierbei können abhängig vom Anwendungsfall weitere Informationen in die Modellierung einfließen. Gibt es z.B. bereits physikalische Modelle zu der Maschine, wie teilweise in der Industrie vorhanden? Dann kann diese Simulation mitverwendet werden, um die erwarteten Werte zu berechnen bzw. anzunähern. Gibt es keine physikalische Modellierung, können Ansätze basierend auf Machine Learning genutzt werden, beispielsweise Entscheidungsbäume, Symbolic Regression oder Neuronale Netze (z.B. Multi-Layer Perceptrons oder Autoencoder). Jeder Ansatz hat seine Vor- und Nachteile, die sorgfältig und im Kontext des Anwendungsfalls abgewogen werden müssen. Zum Beispiel werden für das Training von Machine Learning Modellen im Vergleich zu simulierten Ansätzen viele Daten benötigt, denn ein bisher ungesehener Zustand wird auch als auffälliger Zustand interpretiert, selbst, wenn er eigentlich normal sein sollte.
In dem beschriebenen Kompressor-Setting könnte ein KI-Modell anhand der Normaldaten lernen, dass bei einer Umdrehungszahl von 100 U/min die Temperatur erwartungsgemäß bei 32 °C liegt. Liegt die tatsächlich gemessene Temperatur der Maschine dann bei 40 °C (8 °C Abweichung), ist das weniger auffällig, als wenn sie 50 °C beträgt (18 °C Abweichung). Die modellierten Temperaturschwankungen können dann genutzt werden, um einen Alarm auszulösen, sollte die tatsächliche Temperatur zu stark abweichen. Auch können die aktuellen Abweichungen mehrerer Kompressoren in einem Dashboard angezeigt werden, um eine Priorisierung von Wartungen und Fehleranalysen zu ermöglichen.
Wie Sie anhand der beiden Beispiele erkennen können, ist das beschriebene Framework zur Anomalieerkennung universell einsetzbar. Jedoch wird die Aufarbeitung und Selektion der verfügbaren Daten, die Modellierungsmethode, die Visualisierung der Ergebnisse und andere Entscheidungen speziell für jeden Anwendungsfall getroffen und umgesetzt. Hier gibt es keine allgemeingültige Lösung. Jedoch kann mit der entsprechenden Expertise und dem passenden Prozessverständnis auf die entsprechenden Bedürfnisse geachtet werden: Ist der Wunsch, den Ansatz möglichst einfach auf neue Umgebungen zu übertragen? Sind die Zusammenhänge der betrachteten Größen bei den Mitarbeitenden formalisiert oder intuitiv bekannt? Sollen die Ergebnisse visualisiert werden, oder genügt eine Meldung an das passende System?
Eine mögliche Visualisierung der Anomalieerkennung. Unten: Neben den erwarteten/modellierten werden auch die echten Werte über den zeitlichen Verlauf angezeigt. Oben: Ein aus den Abweichungen berechneter Gesundheitszustand zwischen 0 und 100 % wird in der Oberfläche angezeigt, sodass mit einem Blick der Zustand der Maschine abgeschätzt werden kann. Eine farbliche Kodierung (Rot, Orange, Grau) unterstützt dabei.
Die passende Visualisierung hängt vom konkreten Einsatz der Lösung ab: Die Umwandlung der unnormierten Abweichung zu einem Wert zwischen 0 und 100 %, der den „Gesundheitszustand“ der Maschine beschreibt, ermöglicht ein besonders intuitives Verständnis und kann in einem Verlaufsdiagramm den bisherigen Verlauf und mögliche Entwicklungen darstellen. Ein Ampelsystem bietet sich z.B. als besonders leicht erkennbare Darstellung für den Einsatz in der Produktionshalle an. Auf genau solche Bedürfnisse und Anforderungen einzugehen und entsprechend zu handeln, ist unsere Aufgabe, wenn wir mit Ihnen als Kunde ins Gespräch kommen. Unsere umfangreiche Expertise und Erfahrung erleichtern hierbei die Zusammenarbeit.
Im dritten und letzten Blogpost zur Anomalieerkennung werden wir unser Framework bei verschiedenen Anwendungsfällen in der Verwaltung nutzen. Haben wir Ihr Interesse geweckt? Wo kann Anomalieerkennung bei Ihnen eingesetzt werden? Kontaktieren Sie uns gern und folgen Sie uns bei LinkedIn, um den nächsten und alle kommenden Blogposts nicht zu verpassen.